Veranstaltung: | Bildungskatastrophe-abwenden |
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Antragsteller*in: | LAG Bildung Bayern (dort beschlossen am: 05.02.2022) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 22.01.2022, 23:19 |
A1: Bildungskatastrophe abwenden — aus der Krise lernen — Schule und Bildung zukunftsweisend aufstellen!
Antragstext
Stellungnahme der LAG Bildung Bayern zur Situation in Bayern
Seit fast zwei Jahren leben wir in einer Pandemie, unsere Gewohnheiten sind auf
den Kopf gestellt. Nach fast zwei Jahren sehen wir auch: die Bayerische
Staatsregierung, die in der Verantwortung für die Situation in Schulen und
Universitäten steht, versagt vollkommen. Es spielt sich eine unsichtbare
Katastrophe ab, deren Folgen wir als Gesellschaft langfristig tragen müssen.
Die Pandemie mit ihren Kontaktbeschränkungen trifft Kinder und Jugendliche
besonders hart, denn sie brauchen den Kontakt zu den Gleichaltrigen für ihre
Entwicklung ganz wesentlich. Die Pandemie hat zu einer starken Isolation
geführt: Freizeiteinrichtungen waren und sind geschlossen, Treffen in größeren
Gruppen sind weitgehend verboten, die Kommunikation ist oft nur ausschließlich
digital statt, das Vereinsleben liegt brach. Das Fehlen der Kontakte, von
gemeinsamem Fortgehen und Spielen mit Gleichaltrigen hat zu einem
besorgniserregenden Anstieg psychischer und physischer Erkrankungen geführt, von
vermehrten Fällen von Adipositas und „Altersdiabetes“ bis hin zu einem starken
Anstieg der Suizidalität von Kindern und Jugendlichen.
Bis heute gibt es kein Konzept, wie die Folgen der Pandemie außerhalb und
innerhalb der Schulen und Bildungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche
abgefedert werden können. Die Unterbrechung der Gewohnheiten führte zu
Orientierungslosigkeit. Die Staatsregierung blieb tatenlos im pädagogischen
Konzept, aber aktivistisch in sich widersprechenden kleinteiligen Anweisungen.
Schule reduziert sich vom Lebensort zu einer „Lernkaserne“, da alle Begegnungen
wie auch Wahlfächer und Schulveranstaltungen (Fahrten, Theater, Schulkonzerte,
Schulfest, Sportwettkämpfe) entfallen.
Bayern steuert auf eine soziale und eine Bildungskrise bei Kindern und
Jugendlichen zu, wenn nicht sehr schnell gehandelt wird. Der Fokus der
Bildungspolitik muss als Antwort auf die Coronakrise nicht auf
Leistungsnachweise und Lehrplanerfüllung gerichtet sein, sondern auf das Leben
in der Schule als sozialem Ort und auf die psychische und körperliche Gesundheit
der Kinder und Jugendlichen.
Der Druck auf die Lehrkräfte, der durch Lücken im Lernstand der Schüler*innen
entsteht, birgt die Gefahr, dass auf Persönlichkeitsbildung und Bindungsarbeit
weniger Fokus liegt, und dass sie zum herkömmlichen frontalen Präsenzunterricht
zurückkehren. Sie wollen alle Schüler*innen im Blick behalten, aber die Vorgaben
der Pandemiebekämpfung (Abstände, Trennung von Gruppen, Nachverfolgung)
verhindern Flexibilität und zwingen damit oft zum Frontalunterricht. Die
vorhandenen Möglichkeiten werden oft nicht genutzt, Sozialformwechsel
(Gruppenarbeit, Partnerarbeit, Einzelarbeit) findet weniger als früher statt.
Bei Fernunterricht verleiten die digitalenMedien bei fehlender Erfahrung zu
Lehrkraftzentriertheit. Hier hat der Fernunterricht die Routinen des
Frontalunterrichts eher noch gefestigt, ein Rückfall in alte Routinen, die
eigentlich längst überwunden sein sollten, droht. Junglehrkräfte lernen oft von
Anfang an nur diese Unterrichtsroutinen.
Zudem ist der Kontakt zwischen den Lehrkräften wegen der räumlichen Trennung
stark eingeschränkt. Diese mangelnden Kommunikationsmöglichkeiten zwischen
Lehrkräften erhöhen Unsicherheiten und verhindern die „informelle Fortbildung“
im Lehrerzimmerdialog. Hinzu kommt eine enorme Arbeitsbelastung durch anfallende
Vertretungen bei erhöhtem Kranken- bzw. Quarantänestand.
Auch für Schulleitungen bedeutet die Pandemie einen Ausnahmezustand: die ständig
wechselnden, extrem kurzfristigen Vorgaben bedeuten eine enorme Mehrbelastung.
Um den Unterricht überhaupt aufrechtzuerhalten, müssen sie Hygiene, Testregime,
3G, Elternkommunikation, Präsenz-/Distanz-/ Hybridunterricht organisieren sowie
Aushilfslehrkräfte finden und anstellen. Dies alles ohne zusätzliche zeitliche
Ressourcen zu erhalten. Gleichzeitig soll der digitale Umbau stattfinden, die
Agenda 2030 im Rahmen der BNE-Vorgaben umgesetzt und Lehrkräftefortbildung
organisiert werden.
Ein Kernpunkt der erschwerten Situation an den Schulen ist: Der Schwerpunkt
wurde auch in der Pandemie konsequent auf Stoffvermittlung und Notenerhebung
gelegt. Die Notenvollständigkeit blieb an den meisten Schularten gefordert,
trotz schwierigster Bedingungen. Dies minimiert die Zeit für die Arbeit an den
eigentlichen Schlüsselqualifikationen des Lehrplans (z.B. Sozialkompetenz,
Alltagskompetenz, Problemlösungsfähigkeit).
Gleichzeitig bleibt die Entwicklung und dauerhafte Nutzung der neu entdeckten
digitalen Möglichkeiten stecken. Die Schüler*innen sind durch die starke
Lehrerzentriertheit in eine passive Rolle gedrängt. Die Begleitung in die
Selbstverantwortung fehlt, sie erfahren kaum Selbstwirksamkeit. Die
Schüler*innen sind nur Bildungskonsument*innen, anstatt aktiv und nachhaltig
ihre Bildungsziele selbst zu erarbeiten.
Die Schulen haben in den Wellen der Pandemie häufig einen hohen Krankenstand zu
verzeichnen. In der Distanz hat sich bei vielen Schüler*innen eine gewisse
Trägheit und Müdigkeit eingestellt, die zu fehlender Motivation und Fernbleiben
vom Unterricht führt, bis hin zur Schulverweigerung. Hinzu kommt oft die Angst,
die Krankheit mit in die Familie zu bringen.
Das Festhalten an Lehrplänen und das Einsammeln von Noten führt zu
Leistungsdruck und Versagensängsten. Statt hier pädagogische Lösungen zu
entwickeln, die die Schüler*innen stützen, haben die Schüler*innen wegen
mangelnden Unterrichts große „Lücken“. Dies kann zu Verweigerung, Erkrankung und
Fernbleiben vom Unterricht führen. Die absurden Maßnahmen und das kopflose
Agieren des Kultusministeriums haben hier die Situation nur verschlimmert.
Gruppenarbeiten, Partnerarbeiten, Projektarbeiten, etc. finden kaum statt.
Digitaler Ersatz kann wegen fehlender Ressourcen und Kenntnisse nicht
stattfinden. Damit gehen wesentliche pädagogische Inhalte verloren. Auch
soziales Lernen findet nicht statt, die Schüler*innen können Klassen- und
Gruppendynamiken nicht erleben, das Erlernen von Gruppenprozessen ist nicht
möglich.
Der körperliche Ausgleich und die Ausbildung motorischer Fähigkeiten fällt in
der Schule weg. Auch in der Freizeit sind viele Angebote für Jugendliche
weggefallen. Der „Fahrradführerschein“ in der 4. Klasse konnte nicht überall
stattfinden, der Schwimmunterricht ist oft ausgefallen.
Wir müssen den Schulen schon jetzt aktiv einen Schub geben, damit sie die
Corona-Krise meistern können. Dafür brauchen wir jetzt folgende Maßnahmen:
- Als Sofortmaßnahme brauchen wir endlich eine valide Teststrategie für
Freiheit im Lernen: Sofort zuverlässige wirksame Tests für alle Mitglieder
der Schulgemeinschaft einführen. Verzicht auf unwirksame Tests.
- Wir schaffen sofort die Übertrittsnoten zur 5. Klasse ab und geben die
Entscheidung in die Hände der Pädagog*innen und Eltern in gemeinsamer
Beratung.
- Wir brauchen frühzeitige Notfallpläne zur psychischen Unterstützung von
Kindern und Jugendlichen an den Schulen: mit klaren Abläufen und enger
Zusammenarbeit mit Sozialpädagog*innen und Schulpsycholog*innen, die bei
kleinsten Anzeichen von Schulverweigerung und/oder psychischen
Auffälligkeiten angewendet werden. Hierzu brauchen wir mehr
Schulsozialpädagog*innen und Schulpsycholog*innen und die Einbindung der
externer Träger in den Prozess. Kurzfristig muss bei den
Schulpsycholog*innen und Beratungslehrkräfen die Unterrichtsverpflichtung
deutlich zurückgefahren werden, um sich um psychische Auffälligkeiten bei
Schüler*innen zu kümmern.
- Wo immer möglich, müssen wir die Schule wieder zum Lebensort machen. Dafür
sind Freiräume nötig: die Schulen brauchen die Möglichkeit, unbürokratisch
und schnell Konzeptezum gemeinsamen Lernen, zur Erfahrbarmachung von
Selbstwirksamkeit, wie z.B. den „Freiday“ (Der Freitag ist ohne
Stundenplan, für Projekte, soziales Lernen etc.) umzusetzen.
- Begegnung muss innerhalb des Unterrichts Priorität haben: dort, wo es
pädagogisch und didaktisch notwendig ist, soll explizit zu wechselnden
Unterrichtsformen geraten werden.
- Ab sofort muss Begegnung Priorität haben: Sobald wie möglich müssen in
allen Jahrgangsstufen Zeiträume für Exkursionen, Fahrten, etc. geschaffen
werden.
- Um pädagogische Handlungsspielräume zu ermöglichen, muss als
Sofortmaßnahme auf die Notenvollständigkeit verzichtet werden und die
Notenvalidität im Vordergrund stehen. Stattdessen muss der
Schwerpunktsetzung auf Schlüsselqualifikationen (z.B. Alltagskompetenz,
(inter-)kulturelle und digitale Bildung, Werteerziehung) liegen. Es muss
mehr Spielräume bei Stoffauswahl und Benotung, und für andere
Prüfungsformaten geben.
- Wir müssen sofort Konzepte der Eigenverantwortung und Möglichkeiten der
Selbstwirksamkeitserfahrung als fest eingeplanten Bestandteil der
Schulkultur etablieren und Mitentscheidungsmöglichkeiten schaffen.
- Wir brauchen dafür gezielte Fortbildungsprogramme: für Schüleraktivierung,
vielfältigen Unterricht (Aufbrechen der Frontalroutinen), Förderung der
Eigenverantwortlichkeit und Selbstwirksamkeit der Schüler etc.
- Wir brauchen größte Anstrengungen für die digitale Evolution: alle Schulen
müssen technisch nach gleichen Standards ausgestattet werden. Die
pädagogischen Möglichkeiten des Digitalen, die die Corona-Krise eröffnet
hat, wie Selbstlern-Optionen, Selbsttests und neue Prüfungsformate,
asynchrones Lernen/Unterrichten, die Verschränkung von Lernen in der
Schule und Lernen zu Hause müssen etabliert werden.
- Stärkung des Kollegiums I: Online-Lehrerklassenteams flächendeckend
etablieren, genauso wie coronakonforme Präsenzformate für die Lehrkräfte,
um den sozialen Kontakt, die Teamarbeit und die Einbindung neuer
Lehrkräfte zu erleichtern
- Stärkung des Kollegiums II: Einführung von zwei Stunden pro Woche für
Kollegiale Beratung und gegenseitige Hospitation der Lehrkräfte.
- Stärkung des Kollegiums III: Es ist grundsätzlich eine Aufstockung des
Personals in den Schulen vonnöten, um die Folgen der Pandemie abzufedern
und die bayerischen Schulen zukunftsfähig aufzustellen.
- Stärkung der Schulleitungen: Deutliche Ausweitung der Leitungsstunden
(insbesondere in Grund- und Mittelschulen); Aufstockung der Erweiterten
Schulleitung und verstärkte Einführung in Grund- und Mittelschulen.
- Gründung einer WIRKLICHEN Stabsstelle zum Lernen in der Kultur der
Digitalität, die in ständigem Austausch mit den Schulen Best-Practice-
Lösungen sucht, mit dem Verständnis, dass dies eine Aufgabe ist, die nicht
irgendwann beendet ist, sondern ständig fortgeführt werden muss.